„Was ist eigentlich Europa?“ – hinter dieser etwas saloppen Frage verbirgt sich ein – weniger salopp formuliert – Diskursfeld mit weitreichenden politischen, gesellschaftlichen, historischen und geographischen Implikationen. Sich eine Vorstellung genau davon zu erarbeiten, ist gegenwärtig die Aufgabe des Sozialkundekurses 2sk2 (Eichiner), der sich dieses ersten Themas des Lehrplans in der Q 12 annahm.

Ausgehend vom Sammeln der bei den Kursteilnehmern vorherrschenden Vorstellung von Europa in Form persönlicher Statements – „Europa ist für mich …“ – untersuchte  der Kurs den geographischen und politischen Begriff von „Europa“.

Nachdem der Kurs einige Überlegungen zum geographischen und politischen Raum anstellte, kam man zum Thema, für das wir eine Live-Schalte nach Tiflis während des Unterrichts aufbauten: Europa als Identitätsraum.

Die These war, dass Europas Grenzen nicht nur nicht geographisch oder politisch fest definiert sind, sondern dass Europa auch als kultureller Raum und Identifikationsraum (Wir sind Europäer! Wir sind europäisch) sich über die Grenzen des politischen und geographischen Europas schiebt. Dass also nationale Selbstbilder und -zuschreibungen existieren, die in den genannten Räumen nicht abgebildet werden.

Als Beispiel sollte „Georgien“ dienen, das – Stand heute – geographisch noch politisch weder ganz zu Europa noch ganz zu Asien gehört, ein eurasisches Gebiet als Staat aber aufgrund seiner Lage südlich des Kaukasus gerne als Balkon Europas bezeichnet wird. In der Süddeutschen Zeitung hieß es über Georgien, 2018 Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse:

Von den europäischen Hauptstädten aus gesehen liegt Georgien eigentlich schon in Asien, eingeklemmt zwischen Tschetschenien, der Türkei, Aserbaidschan und Armenien. Trotzdem hat Georgien alle großen Entwicklungen der europäischen Moderne mitgemacht. Georgische Intellektuelle haben Thomas Mann übersetzt, Bücher über Antonin Artaud geschrieben und Grundschulen gegründet, die nach dem Humboldtschen Bildungsideal strebten.​ Der größte georgische Modernisierer des 19. Jahrhunderts hieß Ilia Tschawtschawadse: Er übersetzte Shakespeare und Goethe, gründete die Nationalbank und die Universität und führte in einer Zeit, in der wegen der großen Russifizierung georgische Bücher, Schulen, Gebete verboten waren, die nationale Befreiungsbewegung an, beeinflusst vom Vormärz, von Hegel, Kant und Garibaldi. (https://www.sueddeutsche.de/kultur/georgien-europa-in-asien-1.4153018)

 Genau darüber und um diese Aussagen zu verifizieren, wollten wir uns mit einem lokalen Beobachter „der“ georgischen Mentalität, des nationalen Bildes und des Europabewusstsein austauschen.

Die Leiterin des Goethe-Institut von Tiflis, Frau von Münchhausen, vermittelte uns eine Mitarbeiterin am Goethe-Institut, Christina Nefzger, die sich nun am Freitag, 25.09., live zuschaltete und sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler sowie des Kursleiters stellte.

In den knapp 45 Minuten konnte dank der Ausführungen von Christina Nefzger ein differenziertes Georgienbild gezeichnet werden, das äußerst aufschlussreich war. So erfuhren die Schüler, dass die Georgier tatsächlich in Umfragen eine äußerst hohe Zustimmung zu Europas Werten und zu einer Beitrittsperspektive in die EU äußern; natürlich sei diese Perspektive auch bestimmten Erwartungen in wirtschaftlicher Hinsicht geschuldet, so Christina Nefzger. Doch darüber hinaus gründe dies auf einer Europaorientierung, die nicht nur geschichtlich belegbar ist, sondern auch politisch-ideelle Bedeutung in der Gegenwart hat. Europa sei in kultureller und ideeller Hinsicht schon lange – nicht nur als Abgrenzung vor dem übermächtigen Nachbarn Russland – ein prägender Referenzraum. Das sehe man nicht nur an der jahrhundertelangen starken Rezeption europäischer Kultur, sondern auch aktuell und konkret am Einfluss europäischer Verfassungs- und Gesetzgebungsvorbilder. So würde Georgien sich etwa in vielen Bereichen gerade an Deutschlands Gesetzgebung orientieren. Die europäische Wertebasis – Menschenrechte, Schutz von Minderheiten, Legalisierung von Homosexualität u.a. – sei rechtlich verankert. Auch wenn es etwa noch nicht zu einer Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften gekommen sei, und auch wenn es spürbare Diskrepanzen in Bezug auf die breite Akzeptanz für solche Beziehungsformen zwischen der Hauptstadt und der Bevölkerung außerhalb gäbe, sähe sie Georgien im europäischen Vergleich auf einem guten Weg. Auf die Frage von Kursteilnehmern, ob Frau Nefzger denn den Eindruck habe, dass diese Wertschätzung auf Gegenseitigkeit beruhe, beschrieb sie ihren Eindruck, dass Europa im Moment tatsächlich viel an Georgien (und am kaukasischen Raum) gelegen zu sein scheint – neben, natürlich, finanziellen Zuflüssen würden Beziehungen institutionalisiert. Feste Verbindungsbüros, Mitgliedschaft Georgiens in der „Östlichen Partnerschaft“ der EU, Mitglied in der „Vertieften und umfassenden Freihandelszone“ der EU und andere Beispiele zeigen auf, dass Georgien als „europäischer Partner“ und nicht nur als „Partner Europas“ fungiere.

Da noch niemand aus dem Kurs bisher vor Ort in Tiflis oder Georgien war, sollte in einem kleinen – freilich eher der Unterhaltung geschuldeten – Gedankenexperiment ein Bild des Alltags in Tiflis generiert werden. Herrn Eichiner zufolge sollten sich Frau Nefzger und der Kurs vorstellen, dass Frau Nefzger als Flugkapitänin Schüler*innen und Herrn E. ohne ihr Wissen nach Tiflis fliegt und diese mit verbundenen Augen in der Innenstadt a) Herrn E. in einem Cafe aussetzt  und b) den Kurs in der Disco. Die Frage war, ob Herr E. bzw. der Kurs sich in einer europäischen Stadt (Cafe/Disco) wähnten. Frau Nefzger bejahte dies voller Überzeugung und versicherte, dass man sich mitten in Europa wähnen werde. Und mit dem Hinweis, dass Lufthansa im Moment zweimal Tiflis bediene, reifte beim einen oder anderen der Gedanke, den Balkon Europas doch mal zu besuchen.

P.S. Die Fortschritte Georgiens in der weiteren Annäherung an die EU sind zu überprüfen unter:

https://ec.europa.eu/germany/news/20190131-georgien-reformkurs_de

Empfehlenswerte Reportage: https://www.3sat.de/dokumentation/reise/georgien-von-null-auf-5000-100.html

Ein herzliches Dankeschön sei an Christina Nefzger adressiert: Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, sich Zeit für uns zu nehmen. Ihre präzisen Beobachtungen und Ausführungen haben unser Bild von Georgien fundiert und bereichert.   

Eichiner